Herr Saager aus Wismar
Fest mit der Heimat verwurzelt
Wenn Martin Sager im Ölzeug und schweren Stiefeln seinen Fang vom Kutter zum eigenen Imbisswagen bringt und auf dem Rückweg ein Fischbrötchen verspeist, schafft wohl kaum et-was mehr Vertrauen in die Qualität und Frische seiner Ware. Sein Fischerboot liegt direkt an der Kaje des alten Holzhafens von Wismar. 1978 in Wismar geboren, ist die Stadt seit jeher sein Heimathafen, wo er in einem kleinen Dorf vor den Toren mit Frau Kati, Tochter Lina und Sohn Ben Ole lebt.
Fischer im zweiten Anlauf
Eigentlich wollte er gar kein Fischer werden und in die Fußstapfen seines Vaters treten. Erstmal wollte er sich auf eigene Füße stellen. So machte er nach der Schule eine Lehre als KFZ-Mechaniker und arbeitete eine Zeitlang als Geselle. Doch der Drang nach Unabhängigkeit war irgendwann größer, und da schien das, was der Vater sein Leben lang gemacht hatte, nämlich sein eigener Herr als Fischer zu sein, gar nicht mehr so unattraktiv. Also besuchte er die Fischereischule in Sassnitz und ging in die Lehre bei „Vaddern“ und Heini Hattig auf der Insel Poel. Zwölf Jahre fuhr er auf dem Schleppkutter „Marlen“ seines Vaters. Gefischt wurde auf ein- bis dreitägigen Fangfahrten: Hering auf dem offenen Meer vor Rügen und Dorsch vor Bornholm. Die Arbeit auf einem Schleppkutter hat ihm sehr viel Spaß gemacht. Sie war leichter als die Stellnetzfischerei, weil man mehr Pausenzeiten hatte. Es bedeutete aber auch, für Tage und Wochen nicht nach Hause zu kommen und die Familie nicht zu sehen. Heute ist er stolzer Besitzer zweier eigener dänischer GfK-Kutter, auch gedeckte Plasteboote genannt. Die sechs Meter lange „Lina“ trägt den Namen seiner Tochter, und das größere Boot, das 8,60 Meter misst und von einem 80-PS-Diesel angetrieben wird, trägt den Namen eines geschickten Fisch-fängers: „Seeadler“.
Wo ist der Fisch?
Die Fanggründe von Martin Saager liegen je nach Saison in der Wismarer Bucht und vor der Insel Poel. Wo sich die besten Reviere befinden, musste er mühsam selbst herausfinden. Nach eigener Aussage lernt man schnell, wenn nur Seetang oder Garnichts ins Netz gegangen sind. Wann er aufs Meer hinausfährt, hängt von der Jahreszeit und den Temperaturen ab. Der Fisch muss die Rückfahrt entsprechend der Lebensmittelrichtlinien überstehen, bis er im Hafen angelandet wird. Die Rückfahrt aus den Revieren vor der Insel Poel dauert zweieinhalb Stunden. Im Sommer beginnt Martin Saagers Arbeitstag deswegen frühmorgens oder besser gesagt nachts um 1Uhr, damit der Fisch nicht länger als zehn Stunden im Netz bleibt, ansonsten würde sein Fleisch in der Mittagshitze weich. Im Winter kann Martin dafür ausschlafen. Da geht es erst um 4Uhr los.
Frischer Fisch direkt vom Kutter an der Kaje.
Brotfisch sind der Dorsch im Herbst, Hering im Frühjahr und im Sommer die Flunder und der Aal. Am Samstag wird der fangfrische Fisch an der Kaje ab 5 Uhr morgens direkt vom Kutter verkauft. Was nicht im Imbisswagen in den Verkauf kommt, wird über die Fischereigenossenschaft Wismarbucht e.V. an Fischmärkte, -geschäfte und Restaurants ausgeliefert. Der Rest wird zur Weiterverarbeitung nach Holland geschickt und kehrt als Dorsch- und Heringsfilet oder in der Dose zurück. In den Aalkörben finden sich immer wieder Strandkrabben. Die gelten bei Fischern im Gegensatz zu Flusskrebsen als „minderwertiger Fisch“ und gehen nach Berlin zu einem asiatischen Händler. Der verarbeitet sie weiter zu Suppenfonds. Selbst kann man vor Ort nichts damit anfangen, da das einzig verwertbare Fleisch in den Scheren zu finden ist. Der Aufwand, es herauszupulen, wäre zu groß.
Im verdienten Ruhestand
Der Vater hat bereits mit 14 Jahren als Fischer gearbeitet. Obwohl Hubert Saager nach 45 Berufsjahren bereits seine Rente genießen könnte, sieht man ihn immer noch jeden Morgen dabei, wie er mit einem Messer, scharf wie eine Rasierklinge, in Handarbeit den fangfrischen Fisch filetiert. Innereien und Abschnitte fliegen einfach über Bord, auch im Hafen. Umweltverschmutzung? Ganz im Gegenteil. Ein ständig präsenter Schwarm Möwen sorgt für die Weiterverwertung. Manches Stück schafft es nicht einmal in das Wasser des Hafenbeckens einzutauchen, schon schnappt es einer der geschickten Meeresvögel noch in der Luft auf und versucht damit – von einer laut schreienden Meute von Fressneidern verfolgt – zu fliehen.
Von wegen stur, das ist in Wahrheit höfliche Zurückhaltung
Was der sture Mecklenburger nicht kennt, das macht er auch nicht. Soweit das Vorurteil. Doch wer in die Zukunft blicken möchte, muss sich bewegen, und das nicht nur auf dem Wasser. So hat Martin 2016 gemeinsam mit seinem Kollegen, der bezeichnenderweise den Namen Seemann trägt, einen Imbisswagen gekauft. Damit sind sie nicht unterwegs, sondern versorgen Touristen, Angestellte und Arbeiter aus den Hafengebieten von Mai bis Oktober mit leckeren Fischbrötchen, nach eigenem Rezept hergestellten Brathering und Schillerlocke. Die Fischerei ist ein Saisongeschäft, der Kunde ist König und dessen Wunsch Befehl. Was man also in heimischen Gewässern nicht fängt, wie norwegischen Stremellachs, irischen Angelaal, Heilbutt aus dem Nordatlantik oder Forellen aus Dänemark, kaufen die beiden bei Kollegen ein. In vier Öfen neben dem Netzschuppen wird der Fisch über Buchenholz geräuchert. Wenn der Duft des brennenden Buchenholzes in den Räucheröfen durch das Hafenareal zieht, wissen alle Nachbarn, dass es frische neue Ware gibt. Was sich in der Auslage findet, kann in dem gemütlich hergerichteten Vorhof unter einem Ahornbaum auf der Sitzbank eines hölzernen Ruderbootes verzehrt werden.
Darf es ein bisschen mehr sein?
Gern würde Martin Saager mehr Erlebnisfischerei für Touristen und Schulklassen anbieten. Doch leider hat der Tag nur 24 Stunden, und 12 bis 14 Stunden nimmt allein der Job als regulärer Fischer in Anspruch. Vom Tisch ist die Idee allerdings nicht. Der 1950 in Damgarten vom Stapel gelaufene und seit 20 Jahren in Familienbesitz befindliche Schleppnetzkutter des Vaters mit der Kennung WIS-121 hat einen neuen Eigentümer gefunden. Und nicht nur einen, sondern gleich einen ganzen Verein. 2015 wurde die 65 Tonnen schwere „Marlen“ mit einem Kran aus dem Wasser gehievt. Der neue Eigner, der Förderverein Marlen e.V., hat sich zum Ziel gemacht, die „Marlen“ eines Tages als „erlebnispädagogisches“ Museumsschiff wieder auf die offene See zu steuern und Touristen Einblicke in die Arbeit an Bord eines traditionellen Schleppkutters zu geben. Was einen erwartet, wenn der Bug der „Marlen“ wieder durch die Wellen der Ostsee pflügt, zeigt ein Wandbild des Graffitikünstlers Christian Pursch an einem Netzschuppen im alten Holzhafen.
Ostalgie in der Scheune
Die „Marlen“ wäre für ein eigenes Projekt wohl zu groß gewesen. Stattdessen restauriert Martin Saager in seiner Freizeit Fahrzeuge aus Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik. Zu seinem Fuhrpark gehören inzwischen zwei Mopeds, eine MZ und eine Simson, ein Trabi und eine Dieselameise. Letztere wurde seit den 1950er-Jahren unter der offiziellen Bezeichnung Dieselkarre DK 2004 und später Multicar M21 im VEB Fahrzeugwerk Waltershausen hergestellt. Sie waren auch im Hafen von Wismar ein häufig genutztes Transportvehikel. Mit den Fahrzeugen geht es einmal jährlich zum internationalen Ostblock-Fahrzeugtreffen nach Pütnitz. Was dort an Fahrzeugen präsentiert wird, ist nicht nur beeindruckend, sondern vielleicht auch der Grund dafür, warum Sohnemann immer noch lieber Traktorfahrer werden möchte, als den Fischereibetrieb zu übernehmen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.